Mein „Dorfplatz“
Was haben der Schwetzinger Schlossplatz und Christos verhüllter Reichstag in Berlin gemeinsam? Auf den ersten Blick nicht viel. Provinzstädtchen – wenn auch ein liebenswertes – das eine, nach Liebe suchende Großstadt die andere. Schwetzingen, das war der Ort meiner Schulzeit, an dem man aber in Momenten der Langeweile (und es gab viel Langeweile in Schwetzingen) wusste, was zu tun ist: Man ging auf den Schlossplatz, schaute nach zunächst im „Kaffeehaus“, danach im „Welde“, und es war immer – die Betonung liegt auf immer – „jemand da“.
Der Schlossplatz war ein Ort der Kommunikation (nicht nur für Schüler), auf dem die drängendsten Themen der Zeit besprochen werden konnten: Atomkraft, Mitfahrt am Wochenende ins Dorian Grey am Frankfurter Flughafen, Liebeleien. Mehr gab es nicht, aber das reichte auch. Ach ja, nicht jeder wird Schwetzingen kennen: Es liegt zwischen Heidelberg und Mannheim und ist bekannt für den besten aller Spargel in Deutschland. Wer es sich mal anschauen will, sollte es tun, die halbe Stunde Zeit hat jeder.
Zwei Groschen, ohne die ging es nicht
Berlin, genauer gesagt West-Berlin, hat es jemandem, der aus der nordbadischen Provinz kam, nicht leicht gemacht. Es gab ihn nicht, diesen Ort, an dem „alle zusammenkamen und da waren“. Man musste sich verabreden und in einer noch handyfreien Zeit (ja, die gab es), war das nicht so einfach. „Bewaffnet“ mit zwei Groschen brauchte man für „spontane“ Verabredungen zunächst eine freie (!) Telefonzelle und dann viel Glück, dass jemand dranging. Eine „Kneipe gemeinsamen Vertrauens“ gab es nicht, ganz einfach deswegen, weil es zu viele gab und die auch noch zu weit auseinander lagen: „Café Bleibtreu“, die „Luise“, „Max und Moritz“ … und schon war der Abend um. „Ballhaus Spandau“, das „Madow“ am Olivaer Platz, die „Ruine“ am Winterfeldplatz … ich komme ins Schwärmen.
Es hatte sich alles ganz leidlich eingespielt, bis er kam, dieser Sommer 95: Seit Jahrzehnten wollten „dieser Christo“ und seine Frau Jeanne Claude den Reichstag verhüllen. Warum auch nicht, die Stadt hatte schon Bekloppteres überstanden. Ein Skirennen am Teufelsberg, der Start der Tour de France und natürlich die Skulpturen auf dem Kurfürstendamm sind da zu nennen. Warum also nicht den Reichstag verhüllen, auf die Wiese davor ging man ohnehin nur am Wochenende, um zu kicken. Legendär!
14 wunderbare Tage
So ein Riesenkasten ist natürlich nicht von heute auf morgen verhüllt, über Wochen hinweg wurden die Bahnen gezogen und verknüpft, aber irgendwann war das Kunstwerk fertig … und … Berlin hatte ihn: seinen „Dorfplatz“! Innerhalb wirklich kürzester Zeit traf man sich „am Reichstag“, eine Decke (oder auch nicht), Rotwein, Baguette, Käse, Mucke aus dem Radiorecorder und viele, viele, ganz, ganz viele Leute, die man kannte. Man traf sich, man wusste, dass jemand „da ist“, man quatschte über die Themen der Zeit. Atomtests im Pazifik, ob man schon im „Tresor“ war, Liebeleien, eigentlich nichts Neues. In Zeiten weltweit umspannender virtueller Kommunikation hat der „Dorfplatz“ (Kennzeichen: Kirche, Anger, Linde, Bank) natürlich etwas Begrenztes, natürlich auch etwas Spießiges. Aber er hatte einen immensen Vorteil: Auf ihm fand Kommunikation statt: lebhaft, laut und vor allem altersübergreifend.
Für wunderbare 14 Tage hatte Berlin „so was“ auch: Einen Treffpunkt, der alle vereinte. Lebhaft, laut, alters- und auch kulturenübergreifend.
Heute Morgen kam die Nachricht, dass Christo im Alter von 84 Jahren verstorben ist, er folgt „seiner“ Jeanne Claude. Man wird die Kunst der beiden nicht in Museen besichtigen können, man kann sie höchstens in Fotoalben nachblättern. Aber was ist das schon?
Vielleicht hat es Schwetzingen da doch besser? Wer weiß es …